Montag, 19. Juni 2006

WM 2006: Panoptismus im Leipziger Zentralstadion

stadion_leipzig_02Bei der zeitgenössischen Fußballstadienarchitektur hätte der von der Aufklärung beseelte Erfinder des Panopticons Jeremy Bentham wohl vor Begeisterung gejubelt. Sein Panopticon sollte als ringförmiges Gebäude, in dem die Wärter alles und alle sehen, das Modell für Zucht-, Arbeits- und Schulhäuser abgeben. Im Panopticon hatte jedes Subjekt seine Einzelzelle. Die Fußballfans von heute sind in vier Sektoren A, B, C und D gepfercht. Seit kurzem Verschwinden die Stehplätze zugunsten der Sitzschalen. Dahinter steckt durchaus erzieherisches Kalkül. Die tobenden Fanmassen werden, durch die Sitze vereinzelt und an Bewegungen gehindert. Wer aufspringt und grölt, wird sich über kurz oder lang den Hals brechen. Auch die Stadien sind ringförmige Gebäude in denen unsichtbare Wärter im Raum der Polizeiaufsicht an zwei Bedienplätzen auf acht Farbmonitoren, im Raum des Stadionsprechers und beim Brandschutzbeauftragten alles sehen. Honeywell Security Deutschland installierte im Leipziger Zentralstadion in „allen Stadien- und Vorfeldbereichen insgesamt 68 hochauflösende Farbkameras“. „Die ausgewählten Zoomobjektive mit langer Brennweite erlauben eine lückenlose Überwachung aller Tribünenplätze mit großformatigen Darstellungen der Personen.“[1] Elke Weiße, ehemalige Geschäftsstellenleiterin des FC Sachsen Leipzig, beschrieb die Technik griffiger in der Provinzpostille hallo Leipzig! zur Eröffnung 2004:

„Die Videoüberwachung klappt bereits vorzüglich. Wenn jemand gähnt, kann man problemlos die Goldkrone sehen“, so die Geschäftstellenleiterin belustigt. „Das Sicherheitsaufgebot wird so groß sein, dass der Polizei schon derjenige auffällt, der den Arm hebt“, spitzt es der Vize-Manager Uwe Thomas zu. [2]

Dank Lichtwellenleiter können sogar Aufnahmen mobiler Polizeikamerateams und der Polizeikameras aus der Innenstadt in die Videozentrale übertragen werden. Das digitale System erlaubt „zeitnahe Ausdrucke von aktuellen Aufnahmen auf einem Drucker zu erstellen“ und die Sicherung der Aufnahmen auf CD-Rom-Datenträgern.[3] Wenn es sich dabei nur um das Bild der Goldkrone handelt, ist der Stadionbesuch glimpflich verlaufen. Denn nach Sachsen-Justizminister Geert Mackenroths (CDU) Aussage soll hinter dem Polizisten gleich noch ein Staatsanwalt, „der Haftbefehle beantragt oder Durchsuchungen durchführt“, und ein Richter sitzen. Das Fernziel sei „dass bei leichteren Vergehen der Täter nach dem Schlusspfiff seine Strafe bekommen habe.“, äußerte der Minister gegenüber der Presse.[4]
Digitale Bildaufzeichnung ist auch offen für immer neue programmierte Fähigkeiten. Der ehemalige SPD-Innenminister Otto Schily hat biometrische Erkennungssoftware zur WM bereits im Mai 2005 auf einer Pressekonferenz angekündigt.[5] Die Dresdner Firma Cognitec hat im holländischen Stadion des PSV Eindhoven ein biometrisches Gesichtserkennungsverfahren getestet. Diese Systeme melden dann automatisch Alarm, wenn sie ein Gesicht erkennen, dass in einer entsprechenden Datei gespeichert ist. Dabei kann es sich um bekannte GewalttäterInnen handeln, doch sehr häufig geraten Personen hinein, gegen die nur vage oder unhaltbare Verdachtsmomente bestehen. Gerichtlich geregelt ist dieser Bereich selten. Dass sensibler Software Fehler unterlaufen, kommt da noch hinzu. Was hier gebaut und geplant wird, sind gedankliche Fehlgeburten von politischen PopulistInnen und technischen, juristischen und politischen TechnokratInnen, die oft nicht sonderlich mit dem korrespondieren, was tatsächlich technisch oder juristisch machbar, geschweige denn sinnvoll ist. Für die, die immer noch glauben, dass Videoüberwachung eine - wie auch immer verstandene - Sicherheit erhöhe, sei darauf hingewiesen, dass diese Technik bei weitem nicht die Ziele erreicht, die ihre BefürworterInnen behaupten. Britische Studien sprechen aus, was vielen schon klar ist: „Videoüberwachung hat keine Auswirkung auf Gewaltverbrechen.“ Denn diese werden entweder im Rausch oder Affekt begangen oder geplant, und dann an unüberwachter Stelle oder maskiert.
Jeremy Benthams panoptisches Prinzip baute darauf, dass sich die Eingesperrten normgerecht verhielten, weil sie nicht wissen, ob Sie gerade der kontrollierende Blick trifft oder nicht. Gesellschaftliche Machtverhältnisse werden dabei durch die Architektur und die eigene Normanpassung reproduziert. Ihr Ziel haben die Architekten und Technokraten schon erreicht. Das zentrale Sicherheitsproblem der Stadien ist beseitigt, denn der Masse der einkommensschwachen Fußballfans kommt durch die hohen Preise und die Modalitäten der Ticketvergabe nicht mehr ins Stadion. Die Lust würde ihnen dort auch vergehen, da sie auf den Schalensitzen festsitzen und sich nicht bewegen können. Bier ist auch verboten. Die Ränge sind frei für die FunktionärInnen, Sponsoren und PartnerInnen der FIFA.

[1] www.pro-4-pro.com/de/Security/Company-4248149/4248149_2_gsm0404.html, download 3.12.05
[2] hallo! Leipzig, März 2004, S. 17
[3] www.pro-4-pro.com/de/Security/Company-4248149/4248149_2_gsm0404.html, download 3.12.05
[4] www.netzeitung.de/servlets/page?section=704&item=333232 (9.4.05), download 3.12.05
[5] www.heise.de/newsticker/meldung/print/59911 (25.5.05), download 3.12.05

Details auf der Seite von Honeywell Security:
http://www.honeywell-security.de/presse_news.php?id_anzeige=9
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